Ruby & R.A. Vincent
Raven River Academy Komplette Serie (Deutsch)
Raven River Academy Komplette Serie (Deutsch)
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Meine Eltern vergaßen etwas, als sie verschwanden ... mich.
Nachdem sie den Großteil unserer Heimatstadt um ihre Ersparnisse gebracht hatten, verschwanden meine Eltern mitten in der Nacht. Da meine Tante und mein Onkel vorher schon kaum etwas mit uns zu tun hatten, sind sie nicht bereit, mich aufzunehmen, also werde ich bei der ersten Gelegenheit auf die Raven River Academy verfrachtet.
In meiner Stadt ist die Grenze zwischen denen, die etwas haben, und denen, die nichts haben, in Wirklichkeit ein vier Meter hohes Tor, das die Unerwünschten dort hält, wo sie hingehören. Nichts konnte die beiden Lager vereinen, bis ich einen Fuß auf den Campus setze.
Denn dann sind sie sich zum ersten Mal in unserer Geschichte in einem Punkt einig: Ich muss für die Sünden meines Vaters büßen.
Aber warum sollte mich das kümmern?
Sie können mir so viele Dinge an den Kopf werfen, wie sie wollen. In mir ist nichts mehr. Es gibt keinen Teil von mir, der nicht schon kaputt ist. Ich fordere sie heraus, ihr Bestes zu geben.
Bis die Angels ins Spiel kommen.
Die gefährlichste Gang der Stadt, die Horsemen, haben mit meiner Familie noch eine Rechnung offen, und Cassius, Clay, Hiro und Royal sind hinter mir her, um mich dazu zu bringen, sie zu begleichen.
Raven River wird schnell zu einem Schlachtfeld aus Lügen, Betrug und Gewalt, und ich stehe mittendrin. Die wunderschönen Angels, die aussehen, als kämen sie aus einer anderen Welt, werden mich daran erinnern, dass es nur noch eine Sache gibt, die mir etwas bedeutet ... und sie werden sie mit dem Feuer des Himmels zerstören.
Ihre Angels ist eine Bully-Highschool-Romanze. Es ist das erste Buch der Reihe und enthält explizite Ausdrücke und Szenen sowie düstere Themen. Wenn das für dich in Ordnung ist, dann leg los!
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Erstes Kapitel
Achtlos weggeworfener Müll wurde über den Parkplatz geweht. Ich stellte mir einen gebeugt gehenden, asiatisch aussehenden Mann vor, der ihn mit einem Besen auffegte, dessen Borsten verbogen und ausgefranst waren. Er hob den Kopf, um mich anzustrahlen und zu fragen, ob er meine Nerds und die Cream Soda abrechnen sollte oder ob ich ihn heute mit einer neuen Süßigkeit überraschen würde.
Ich blinzelte und Mr. Han war verschwunden.
Das war alles, was er war. Eine Erinnerung.
Ich hatte ihn wirklich oft genug in genau dieser Position gesehen. Saubermachen, fegen, aufräumen und den Laden erneut aufräumen, den seine eingewanderten Eltern mit dem letzten Rest Geld in ihren Taschen gekauft hatten. Er hatte mir ihre Geschichte immer erzählt, während ich zerknitterte Scheine unter der Trennwand hindurchschob. Seine Eltern arbeiteten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, um ein Geschäft aufzubauen, das sie an ihn weitergeben konnten, und wenn die Zeit gekommen war, würde er ihn an seine Tochter weitergeben.
Meine Augen zeichneten die Engelsflügel nach, die auf die vernagelten Fenster gesprüht waren.
Diese Zeit war nie gekommen.
Die Ampel wurde grün und mein Onkel fuhr los, ließ die Straßenecke und Han’s geschlossenen Lebensmittelladen hinter sich. Ich beobachtete ihn durch das Fenster, bis er nur noch ein Punkt in der Ferne war. Jetzt fühlte ich mich nur noch schlechter.
„… kein Rennen, keine laute Musik, keine Telefone am Esstisch und kein – Ember? Ember!“
Ich zuckte zusammen. „Hm? Oh, entschuldige, Tante Violet. Was hast du gesagt?“
Sie warf mir im Rückspiegel einen vernichtenden Blick zu. „Wir müssen uns auch mit deinen Manieren befassen, wie ich sehe. Es ist unglaublich unhöflich, Leute zu ignorieren, wenn sie mit dir sprechen.“
„Ich habe dich nicht ignoriert. Ich war nur … einen Moment abgelenkt“, sagte ich. „Kannst du das bitte noch einmal sagen?“
Violet rümpfte die Nase. Seit der Richter ihr mitgeteilt hatte, dass es entweder ihr Zuhause, eine Pflegefamilie oder die Straße sein würde, war dieser verkniffene Blick in ihrem Gesicht eingebrannt. Sie wollte keine Kinder, weder leibliche, adoptierte, Pflegekinder oder in einem Korb vor ihrer Haustür ausgesetzte, aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass sie sich insgeheim wünschte, sie hätte sich dafür entschieden, all diese Möglichkeiten auszuschöpfen und ihr Haus mit Dutzenden von Kindern zu füllen. Dann hätte sie einen berechtigten Grund gehabt, zu sagen, dass für uns kein Platz sei.
Die Realität sah so aus, dass sie in einer Villa am anderen Ende der Stadt lebten, und wenn sie sich geweigert hätte, uns aufzunehmen, hätte das bei den klatschsüchtigen Hyänen im Country Club nicht gut ausgesehen, und nichts zählte mehr als das, was sie von ihr hielten.
„Wie ich bereits sagte“, fuhr sie fort. „Wenn ihr in unserem Haus wohnt, werdet ihr euch an unsere Regeln halten. Es gibt kein Rennen, keine laute Musik, keine Telefone am Esstisch und keine Jungs im Haus. Wir nehmen Frühstück, Mittag- und Abendessen gemeinsam ein und ich erwarte, dass ihr pünktlich zu den Mahlzeiten erscheint. Um neun Uhr müsst ihr zu Hause sein, und ihr müsst mir Bescheid sagen, wenn ihr das Haus verlasst und wo ihr sein werdet. Allerdings halte ich es für besser, wenn ihr im Haus bleibt, bis ihr nach Raven River aufbrecht. Hast du mich verstanden?“
„Ja, Tante Violet.“
Sie nickte steif. „Gut. Und jetzt sag deinem Bruder, was ich gesagt habe.“
Ich blickte nach links. Eli las in seinem Buch, seine Augen huschten über die Seite und seine kleine rosa Zunge war herausgestreckt. Er war in eine gute Stelle vertieft und würde sich nicht bei mir bedanken, wenn ich ihn unterbrach.
Ich tat es trotzdem. Ich tippte ihm auf die Schulter und er hob mit gerunzelten Augenbrauen den Kopf.
„Ich liebe dich“, gebärdete ich.
Der kleine Balg verdrehte die Augen und las weiter.
Ich tippte ihn erneut an. „Ich liebe dich, du Idiot.“
Sein süßes, rundes Gesicht verzog sich vor Belustigung.
„Ich liebe dich auch“, erwiderte er.
Ich ließ ihn weiterlesen und machte mir nicht die Mühe, ihm die Regeln zu erklären. Mein Bruder würde nicht rennen, laute Musik spielen, telefonieren oder Leute mitbringen. Für letzteres brauchte man Freunde und/oder Dates. Und die hatten wir beide nicht.
„Was hat er gesagt?“, fragte Violet. „Hat er die Regeln verstanden? Stell sicher, dass er sie versteht.“
„Er versteht das sehr gut. Eli hat keine Probleme mit dem Verstehen“, antwortete ich und hatte das Gefühl, dass es nicht das letzte Mal sein würde, dass ich sie darauf ansprechen musste, weil sie meinen Bruder behandelte, als wäre er geistig behindert. „Aber wo wir gerade bei Eli sind, hast du mit der Liste angefangen, die ich dir gegeben habe? Die Türlichter, Telefonsignalgeber, neue Rauchmelder und Kohlenmonoxidmelder?“
Mein Onkel sprach zum ersten Mal, seit wir vom Gerichtsgebäude weggefahren waren. „Das alles werden wir nicht brauchen. Du und Eli zieht in vier Wochen nach Raven River. Die Schuldirektorin hat mir versichert, dass die Schule für Gehörlose geeignet ist.“
„Wie das?“ Ich steckte meinen Kopf durch den Abstand zwischen ihren Sitzen. „Hat die Schule in jedem Raum einen Rauchmelder mit Lichtsignalen? Wird jemand zur Verfügung gestellt, der mitschreibt oder dolmetscht? Wissen seine Lehrerinnen und Lehrer, dass sie sich nicht von der Klasse abwenden dürfen, wenn sie sprechen? Und was ist mit –“
„Ich bin mir sicher, dass sie alles haben, was er braucht“, unterbrach mich Onkel Harrison. „Das ist nicht die Wesley High. Raven River ist eine Spitzenschule und ihr habt Glück, dass ihr dort aufgenommen werdet. Wir zahlen ein kleines Vermögen, damit du und dein Bruder dort hingehen könnt, also macht das Beste daraus.“
Ich biss mir auf die Lippe, um meine Erwiderung zurückzuhalten. Du zahlst ein kleines Vermögen, um uns loszuwerden. Tu nicht so, als würdest du uns einen Gefallen tun, indem du uns auf ein Ganzjahresinternat schickst.
„Ich würde gerne selbst mit der Schulleiterin sprechen“, antwortete ich stattdessen. „Ich möchte wissen, was sie Eli zur Verfügung stellen, damit er sich vorbereiten kann.“
„Sie wird wohl kaum die Zeit haben, jede Kleinigkeit mit dir durchzugehen“, spottete Violet. „Sie ist eine viel beschäftigte Frau.“
Diesmal machte ich mir nicht die Mühe zu widersprechen, sondern lehnte mich zurück und zog meine Kopfhörer heraus. In der Broschüre, die mein Onkel uns gegeben hatte, gab es zweifellos eine Nummer der Schule. Ich würde später anrufen.
Der eingängige, wummernde Beat eines K-Pop-Songs erfüllte meine Ohren, während ich versuchte, die Erinnerungen an den letzten Monat aus meinem Kopf zu verdrängen.
Es funktionierte nicht.
Es war schon seltsam, wie das Gehirn funktionierte. Seine Macht war beispiellos. Es konnte uns dazu bringen, Dinge zu glauben, die nicht wahr waren. Dinge zu sehen, die nicht da waren. Dinge zu fühlen, die nicht real waren.
Ich spürte noch immer den stechenden Schmerz, als ich mir an jenem Morgen beim Verlassen meines Zimmers den Zeh an der Kommode stieß. Ich hörte das Echo meiner Stimme, als ich nach Mom rief, weil mich eine leere Küche und ein kahler Esstisch empfingen. Ich sah den Dampf aus der Tasse aufsteigen, als ich mir meinen eigenen Kaffee kochte. Ich spürte das Parkett unter meinen Füßen, als ich die Treppe hinaufstieg, das Zimmer meiner Eltern betrat, den Schrank und die Schubladen leer vorfand und das getrocknete Wachs der Kerze im Teppich kleben sah. In ihrer Eile, das Haus zu verlassen, hatten sie die Kerze umgeworfen. Aber noch deutlicher als all diese Erinnerungen sah ich den Zettel auf dem Kopfkissen, der mir in zwei kurzen Sätzen mitteilte, dass mein Leben, wie ich es kannte, vorbei war.
Ja, das Gehirn war etwas Mächtiges. Es hatte mir vorgegaukelt, dass diese egoistischen, verlogenen Schweine mich liebten.
Die fröhliche Musik dröhnte in meinen Ohren, das Gegenteil von meinen düsteren Grübeleien. Eine Bewegung aus dem Augenwinkel riss mich aus meinen Gedanken. Ich zog meine Kopfhörer heraus. Meine Tante wedelte mit der Hand, um meine Aufmerksamkeit zu erregen.
„Das ist eine andere Sache“, sagte Violet. „Wenn du die Dinger so laut hast, dass du mich nicht hörst, wenn ich mit dir spreche, wirst du sie gar nicht benutzen.“
Ich knirschte mit den Zähnen. Ich hatte mir ehrlich gesagt nie viel aus meiner Tante und meinem Onkel gemacht. Sie lebten schon mein ganzes Leben lang am anderen Ende der Stadt, nur eine halbe Stunde entfernt, aber wir sahen sie nur an wichtigen Feiertagen. Nicht einmal an Geburtstagen kamen sie zu Besuch. Wenn sie da waren, sprach meine Tante nur, um meine Haare, meine Kleidung, meine Körperhaltung und meine Weigerung, Make-up zu tragen, zu kritisieren. Letzteres machte sie wirklich verrückt und ich bekam jedes Jahr zu Weihnachten ein Make-up-Set, seit ich zwölf war.
Der Bruder meines Vaters, Onkel Harrison, sprach auch kaum mit mir. Er verließ ständig den Raum, um geschäftliche Anrufe entgegenzunehmen. Manchmal erwischte ich ihn auf der Veranda, wo er ins Telefon brüllte und irgendeinen armen Trottel einen Idioten nannte. Und was Eli anging, so sprachen die beiden überhaupt nicht mit ihm. Die beiden kamen nie auf die Idee, Gebärdensprache zu lernen.
Ich führte ihr Verhalten auf den mysteriösen Streit zurück, der die Brüder Jahre vor meiner Geburt entzweit hatte. Die aufgeladene Atmosphäre war nicht zu leugnen, wenn mein Vater und sein Bruder im selben Raum waren. Aber jetzt waren meine Eltern weg. Jetzt gab es nur noch uns vier, und nachdem ich den letzten Monat viel in ihrer Gegenwart verbracht hatte, während sie mit Polizisten, Anwälten und Sozialarbeitern zu tun hatten, wusste ich mit Sicherheit, dass sie uns einfach nicht leiden konnten.
„Wie auch immer“, fuhr meine Tante fort. „Wir sind etwa fünf Minuten vom Estate entfernt. Wenn wir dort ankommen, bringst du die Sachen von dir und deinem Bruder auf eure Zimmer und ihr bleibt dort, bis Margaret euch zum Mittagessen ruft. Ihr dürft in eure Zimmer, die Bäder, das Esszimmer und das Wohnzimmer im Erdgeschoss. Die Küche ist tabu. Unser Schlafzimmer und unsere Büros sind tabu. Die anderen Wohnräume sind ebenfalls tabu. Die Antiquitäten dort sind unbezahlbar und die Polstermöbel teuer. Ich werde nicht dulden, dass ihr unsere Sachen kaputt macht. Sorg dafür, dass dein Bruder das versteht.“
„Wir sind keine Kleinkinder“, schnappte ich. „Und hör auf, ihn als ‚deinen Bruder‘ zu bezeichnen. Sein Name ist Eli. Er ist ein Einser-Schüler. Er spricht zwei Sprachen und macht fantastische Blaubeerpancakes. Stell sicher, dass du das verstehst.“
Onkel Harrison wandte sich so schnell zu mir herum, dass er das Lenkrad verriss und ich gegen die Tür geschleudert wurde. Er bog auf einen Parkplatz am Straßenrand. „Wage es nicht noch einmal, so frech zu meiner Frau zu sein“, brüllte er mit fliegender Spucke. „Entschuldige dich!“
Mein Herz raste in meinem Brustkorb. Auf diese Reaktion war ich nicht vorbereitet gewesen. Dads Methode der Zurechtweisung war es, mir ruhig zu sagen, dass ich auf mein Zimmer gehen sollte. Feuerrote Wangen und hasserfüllte Blicke spielten dabei keine Rolle.
Elis Buch drückte gegen meinen Oberschenkel. Es war ihm aus der Hand gerutscht. Er starrte mich mit großen Augen an. Die Angst in ihnen drückte mir den Brustkorb zusammen.
Ich legte meine Hand auf seine und beruhigte ihn schweigend. „Es tut mir leid, wie ich es gesagt habe, Tante Violet“, antwortete ich in einem sanften Ton. „Aber es tut mir nicht leid, was ich gesagt habe. Ihr beide kennt mich kaum, und Eli noch weniger. Ich denke, wenn wir den nächsten Monat überstehen wollen, sollte ich klarstellen, dass wir nicht unordentlich, laut oder rücksichtslos sind. Wir werden euer Eigentum respektieren, dort bleiben, wo wir sein sollen und uns an eure Regeln halten. Aber Eli ist ein kluger, lustiger und toller Junge, und ich werde nicht zulassen, dass ihr ihn behandelt, als wäre er das nicht.“
Eli sah mich an, als ich das sagte, und las jedes Wort von meinen Lippen ab. Er warf einen Blick auf meinen Onkel, um eine Antwort zu erhalten.
Wir starrten uns gegenseitig an. Noch vor einem Monat hätte ich mich vor dem schroffen, kahlköpfigen, wütenden Mann, der mich immer ansah, als wäre ich seine Zeit nicht wert, geduckt. Aber dieses Mädchen war ich nicht mehr. Jetzt gab es nur noch mich und Eli. Wir mussten aufeinander aufpassen. Niemand sonst würde das tun.
Ich warf einen Blick auf den Mann, der praktisch gezwungen wurde, uns aufzunehmen.
Niemand sonst will das.
Mit der Zunge schnalzend drehte sich mein Onkel um und ergriff wieder das Lenkrad. „Dann macht das auch.“ Er fuhr weiter in Richtung unseres neuen Zuhauses.
Eli drückte meine Hand, um meine Aufmerksamkeit zu erregen. „Was hat er gesagt?“
„Wir sollen das auch tun“, wiederholte ich. „Ihre unsinnigen Regeln befolgen.“
Seine Schultern sackten zusammen. „Müssen wir mit ihnen leben? Du bist achtzehn. Wir können uns eine Wohnung suchen. Nur du und ich.“
Ich zerzauste seinen gewellten blonden Schopf. „Ich wünschte, ich könnte das und ich verspreche, dass es eines Tages nur wir beide sein werden. Aber im Moment habe ich kein Geld, keine Kreditwürdigkeit und keine Bürgen.“
Eli legte bei dem letzten Wort den Kopf schief, also erklärte ich es ihm. Mein Bruder hatte unendlich viele Möglichkeiten, sich mitzuteilen, und da ich das Glück hatte, seine ältere Schwester zu sein, durfte ich einen Blick in seine Welt werfen.
„Die einzige Unterkunft, die wir bekommen würden, wäre ein schäbiges Drecksloch im schlimmsten Teil von OB“, gebärdete ich. „Das wäre nicht sicher für dich.“
Eli hob eine Augenbraue. Er hatte nicht gebärdet, aber ich konnte den Gedanken hören, der ihm durch den Kopf ging.
Nirgendwo in dieser Stadt sind wir sicher.
Ich tat so, als könnte ich seine Gedanken nicht lesen, um nicht mit einer Antwort aufkommen zu müssen. Stattdessen gab ich ihm sein Buch wieder und starrte wieder aus dem Fenster, gerade rechtzeitig, um ein gold-schwarzes Schild vorbeiziehen zu sehen.
Raven River Estate.
Um jeden Zweifel auszuräumen, wo wir uns befanden, ragten die dazugehörigen gold-schwarzen Tore vor dem Horizont auf. Onkel Harrison bremste vor dem Wachposten ab.
„Guten Tag, Mr. Bancroft“, sagte der uniformierte Mann. „Sie bringen heute Gäste mit?“
„Ja. Ember und Eli Bancroft. Ich habe sie im bei der Verwaltung angemeldet.“ Mein Onkel holte etwas aus dem Handschuhfach und reichte es ihm. „Sie werden für eine kurze Zeit bei uns wohnen.“
„Sehr wohl, Sir.“
Der Wachmann trat aus dem Häuschen und sah uns an, wobei er von unseren Gesichtern zu den Pässen blickte.
Die Sicherheitsvorkehrungen hier sind streng.
Aber die verwöhnten Schnösel, die in diesem goldenen Käfig lebten, wollten das auch so. Nicht auszudenken, wenn der OB-Pöbel hereinkäme.
Die Fahrt zum Haus meines Onkels war kurz, aber landschaftlich reizvoll. Das Estate war wirklich wunderschön. Auf den Straßen lag kein Müll herum. Kein Graffiti an den makellosen, frisch gewaschenen Schaufenstern. Und in der Ferne ragten große Häuser auf.
Als wir am Park vorbeikamen, sah ich Paare in Poloshirts und Kakihosen, die Arm in Arm spazieren gingen, und pausbäckige Kleinkinder, die fröhlich durch den Mulch liefen. Es war wie in einer Tamponwerbung. Ein perfektes Bild, um einen blutigen Albtraum zu verschleiern.
Zumindest wird es das für mich sein. Tante Violet und ich sind uns in einem Punkt einig. Es ist besser, wenn ich drinnen bleibe.
„Hier ist es“, verkündete Onkel Harrison grundlos. Es war ja nicht so, als wären wir noch nie bei ihnen zu Hause gewesen. „Tut, was eure Tante gesagt hat, bringt eure Sachen nach oben und bleibt in euren Zimmern.“
„Okay.“
Mein Onkel stellte das Auto vor dem Eingang ab. Ich drückte mein Gesicht gegen das Fenster und betrachtete die Villa, die ich insgesamt dreimal gesehen hatte. Nichts hatte sich verändert.
Dad hatte mir vor Jahren erzählt, dass hier einst ein charmantes Herrenhaus im Tudor-Stil gestanden hatte. Tante Violet hatte es dem Erdboden gleichmachen lassen, nachdem sie das Grundstück gekauft hatten und an seiner Stelle diese weiß-graue Katastrophe aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts gebaut. Ein Haus, das seit der Gründung der Stadt hier gestanden hatte, war innerhalb der Zeit verschwunden, die meine Tante brauchte, um einen Scheck zu unterschreiben.
Die Türen öffneten sich und ein Mann in einem schicken Anzug trat mit einem Tablett heraus.
„Und noch eine Sache.“ Tante Violet drehte sich auf ihrem Sitz herum. „Die Bediensteten arbeiten nicht für euch, also maßt euch nicht an, ihnen Befehle zu erteilen. Ihr wascht eure Wäsche selbst, putzt eure Zimmer und räumt eure Sachen auf. Ich bin mir sicher, dass ich mich nicht wiederholen muss.“
„Das musst du nicht“, antwortete ich schlicht.
Meine Tante Violet war eine wunderschöne Frau, und sie gab sich Mühe, so zu bleiben. Sie würde es nicht wagen, das Haus mit sichtbarem Haaransatz zu verlassen, aber alte Fotos verrieten, dass sie früher genauso blond war wie wir alle. Der toffeebraune Bob, den sie jetzt trug, stand ihr genauso gut. Er betonte die grünen Sprenkel in ihren braunen Augen und umrahmte ihr herzförmiges Gesicht. Was er nicht betonte, waren die zusammengekniffenen Lippen und die angespannte Augenpartie, wann immer sie in meine Richtung schaute.
„Sag es deinem Br– Eli“, korrigierte sie.
Ich tat, was sie verlangte.
„Darf ich in die Bibliothek gehen?“, erwiderte Eli.
Ich wiederholte die Frage.
„Nein“, sagte sie zu mir. „Dort gibt es Erstausgaben, die eine Menge Geld wert sind.“
„Du solltest direkt mit ihm sprechen“, sagte ich. „Er ist es, mit dem du redest.“
Sie runzelte die Stirn. „Nein, das tue ich nicht. Ich spreche mit dir.“
Ich schüttelte den Kopf, als sie und Onkel Harrison aus dem Auto stiegen. Sie nahmen die Drinks entgegen, die der Butler ihnen anbot, und verschwanden dann ohne einen Blick zurück im Haus.
„Mir gefällt es hier nicht“, gebärdete Eli.
Wir hatten noch keinen Fuß ins Haus gesetzt und ich konnte nicht anders, als zuzustimmen.
„Wir müssen das Beste daraus machen“, sagte ich und sprach, während ich gebärdete. „Es ist besser, als wenn ich auf der Straße lebe und du in einer Pflegefamilie festsitzt.“
Er sah nicht überzeugt aus.
Eli und ich stiegen aus und holten unsere spärlichen Habseligkeiten aus dem Kofferraum. Das meiste, was wir besessen hatten, war von den Behörden beschlagnahmt worden. Alles, was wir hatten, waren Kleidung und die wenigen Bücher, die Eli mitnehmen durfte.
Der Butler blieb lange genug, um uns zu unseren Zimmern zu führen. Wir wurden im zweiten Stock untergebracht, in den beiden hintersten Zimmern. Weit weg vom Rest des Hauses, aber ich beschwerte mich nicht über das breite Bett, das eigene Bad oder das Zimmer neben Eli. Wie gesagt, es war unendlich viel besser, als auf mich allein gestellt zu sein und zu wissen, dass Eli in einer Pflegefamilie war.
Eli machte es sich auf seinem neuen Bett gemütlich und las weiter. Ich übernahm die Aufgabe, seine Sachen einzuräumen. Vielleicht würde es sich mit seinen Büchern in den Regalen und den Fotos von unserer Reise nach Disney auf dem Nachttisch mehr wie zu Hause anfühlen.
Ich ging ins Badezimmer, um seine Toilettenartikel wegzuräumen. Als ich wieder herauskam, hatte er das Buch zur Seite gelegt und saß an seinem Laptop. Neugierig wie ich war, hüpfte ich zu ihm auf das Bett, um zu sehen, was er anschaute. Ein Blick und ich nahm ihm den Laptop sofort weg.
Eli sprang auf und sah mich mit blitzenden Augen an.
„Mach das nicht“, schnappte ich. „Warum quälst du dich mit diesem Zeug?“
Auf dem Bildschirm prangte ein ziemlich schmeichelhaftes Foto meiner Eltern in den Flitterwochen unter dem grellen Nachrichtentitel: „Die berüchtigtsten Hochstapler der USA.“
„Ich quäle mich nicht“, antwortete er. „Ich will nur wissen, was vor sich geht.“
„Aus dem Artikel? Das ist Clickbait-Müll“, sagte ich. „Mir fallen spontan drei Leute ein, die Hunderte von Millionen ergaunert haben, also sind Mom und Dad wohl kaum die Berüchtigtsten. Der Artikel ist voll mit halb garen Wahrheiten und genug irreführenden Aussagen, um die Leser die schlimmsten Schlüsse ziehen zu lassen.“
„Dann erzähl du es mir. Nichts davon macht Sinn. Das Land gibt es wirklich. Dad hat uns dorthin mitgenommen. Er hat uns die Pläne gezeigt. Wie kann das alles erfunden sein?“
Ich seufzte. Ich hatte mein Bestes getan, um ihn von all dem abzuschirmen. Er war vierzehn Jahre alt. Er sollte nicht wissen, wie hinterhältig und herzlos seine Eltern wirklich waren.
Er schien das Zögern in meinem Gesicht gelesen zu haben. „Wenn du es mir nicht verrätst, werde ich die Wahrheit selbst herausfinden. Das war ein Irrtum. Wir kennen Mom und Dad. Sie würden so etwas nie tun. Sie würden uns nicht verlassen.“
Ich erstarrte. Das konnte ich nicht zulassen. Die Hoffnung, dass unsere Eltern unschuldig waren und zu uns zurückkommen würden, würde Eli nur noch mehr Leid zufügen, wenn die Zeit verging und dieser Tag nie kam.
Ich diskutierte so lange mit mir selbst, dass Eli wieder nach dem Laptop griff. Ich klappte ihn zu und stellte ihn hinter mir ab. Dann deutete ich auf den Nachttisch und sagte: „Gib mir mal Stift und Papier.“
Eli reichte sie mir. Wir saßen schweigend da, während ich etwas kritzelte.
„Okay.“ Ich legte meine Zeichnung zwischen uns. „Das ist die Stadt Raven River. Der große Kreis in der Mitte ist das Estate und umgeben wird es vom OB, dem Outer Borough.“
Eli wusste diese Dinge, aber er unterbrach mich nicht.
„Weiter außerhalb des OB gibt es privates Land, Wald und ein paar andere Wohngegenden wie die, in der wir lebten“, erklärte ich. „Raven River liegt mitten im Nirgendwo. Wir sind drei Stunden von der nächsten Stadt entfernt, aber wir haben den Fluss. Er ist perfekt zum Angeln, Kajakfahren, Kanufahren und für Naturliebhaber. Völlig unberührte Schönheit, die darauf wartet, genossen zu werden, aber nur, wenn du es schaffst, Touristen überhaupt hierher zu bringen. Das geht aber nicht, weil es in der OB keine schönen Unterkünfte gibt und die Siedlung für Außenstehende tabu ist.“
Er nickte und stimmte mir so weit zu.
„Die ganze Gegend ist wie geschaffen dafür, dass jemand kommt und ein luxuriöses Refugium am Wasser baut und als dieses Stück Land endlich zum Verkauf stand“ – ich zeigte auf eine Stelle neben meinem Fluss – „haben Mom und Dad verkündet, dass sie genau das tun würden. Sie kauften das Land und brachten dann Leute dazu, in die Raven River Lodge zu investieren.
Es war klar, dass es ein Erfolg werden würde. Mom und Dad haben es garantiert.“ Meine Stimme zitterte. „Die Leute aus dem Estate investierten Millionen, und die Leute aus dem OB wurden von Dads Versprechen geködert, alles aus der Region zu beziehen. Obst und Gemüse von Han’s Grocery Store. Wäsche von Martha’s. Angelausrüstung von Bert’s. Einige Leute gaben alles, was sie hatten, um den Zuschlag für die Lieferverträge zu bekommen, und andere investierten alles Geld, das sie hatten.“
„Und was ist passiert?“
„Es hätte nie eine Lodge gegeben, Eli. Nachdem Mom und Dad mit dem Geld abgehauen waren, wurden Nachforschungen angestellt und es stellte sich heraus, dass das Land in einem Überschwemmungsgebiet liegt. Sobald der Fluss über die Ufer getreten wäre, hätten die Gäste zur Rezeption schwimmen müssen. Und selbst wenn sie das hätten umgehen können, ergab ein Umweltschutzgutachten, dass es dort Goldwangen-Waldsänger gibt. Sie sind eine geschützte Art.
Das Land war früher in Privatbesitz, also wusste niemand etwas davon, aber als die Gutachten erschienen, hat Dad die Behörden bestochen, um das geheim zu halten. Die Beamten gaben es zu, nachdem unsere Eltern geflohen waren. Sie wussten, was sie taten, Eli. Sie wussten, dass sie dort nicht mal einen Schuppen bauen konnten, geschweige denn ein Resort, und sie kassierten trotzdem das Geld der Leute.“
Eli ließ den Kopf sinken. Sein Kinn zitterte, während sich Nässe in seinen Augen sammelte. Er hob die Hände und gebärdete: „Wie viel?“
„Über fünfundzwanzig Millionen Dollar.“
Er zuckte zusammen. Die gleiche Reaktion, die ich gehabt hatte, als die FBI-Agenten es mir sagten. Gefolgt von Schreien, Gebrüll und Tränen des Unglaubens, bis sie es mir so erklärten, wie ich es bei Eli getan hatte. Frank und Lenora Bancroft waren die Initiatoren des Projekts und gingen selbst auf die Investoren zu. Es war vollkommen ausgeschlossen, dass sie nicht wussten, wie es um das Land bestellt war, und wann immer ein Teil von mir glauben wollte, dass sie unschuldig waren, dachte ich an die leeren Schubladen und den Zettel auf dem Kissen.
„Aber ich verstehe es trotzdem nicht“, gebärdete er.
„Was verstehst du nicht?“
Eli begegnete meinem Blick und die Tränen in seinen Augen liefen über. „Warum sie uns verlassen haben.“
Meine Hände blieben in meinem Schoß. Ich beugte mich zu ihm und küsste seine salzige Wange. Dann stand ich auf und verließ das Zimmer.
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